In der Göppinger Regionalausgabe der Stuttgarter Zeitung ist heute ein Artikel zum seit Januar laufenden Prozess gegen die vier Rädelsführer der Autonomen Nationalisten Göppingen erschienen. In diesem wird kaum eine Möglichkeit ausgelassen, um die Bedrohung durch rechtes Gedankengut herunter zu spielen. Das finde ich schade und es enttäuscht mich schon ein wenig. Gerade in der aktuellen Zeit, in der vor dem Hintergrund der steigenden Flüchtlingszahlen rechte Hetze wieder immer mehr zunimmt halte ich das für brandgefährlich.
Bereits in den ersten Zeilen des Artikels wird durch die Autoren klargestellt, dass sich als Zuschauer bei diesem Prozess – wenn überhaupt – nur Personen einfinden, die sagen wir einmal “etwas verwirrt” zu sein scheinen:
Die Frau blickt irritiert. Ob es sich denn nicht um den Koffermordprozess handele, fragt sie flüsternd, nachdem sie eine Dreiviertelstunde lang konzentriert Telefonmitschnitten gelauscht hat, die ein Ermittler des Landeskriminalamts dem Gericht vorgespielt hat. Nein, hier gehe es um die Autonomen Nationalisten Göppingen (ANGP), bekommt sie zur Antwort. Schnell packt die Dame ihre Sachen und verschwindet. Es war die erste Zuhörerin seit Langem, die bei dem Prozess gegen die vier mutmaßlichen Rädelsführer der mittlerweile verbotenen Nazigruppierung gesehen wurde.
“Das Urteil fällt, und eine Stadt atmet auf” – Stuttgarter Zeitung Ausgabe Göppingen vom 12.08.2015, Seite 20
Mein Eindruck aus dem Verfahren ist da ein anderer. Klar war es nicht so, dass der Zuschauerraum von interessierten Besuchern gestürmt wurde, aber eine Handvoll Zuschauer war meistens zugegen. Leider ist aber auch wohl mein Eindruck nicht repräsentativ – konnte ich, beruflich bedingt, doch nur an 21 der insgesamt 45 Verhandlungstage persönlich vor Ort sein. Allerdings waren diese Zuschauer oftmals Weggefährten der Angeklagten, deren Interesse an dem Verfahren vermutlich dahingehend zu erklären ist, dass gegen diese selbst bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart weitere Verfahren anhängig sind. Oder es waren Beobachter aus dem gegensätzlichen politischen Spektrum. Zuschauer aus der Mitte der Gesellschaft waren in der Tat leider selten.
Das ist aber auch nicht unbedingt verwunderlich, wenn – so wie das in diesem Artikel auch geschiet – Protest gegen rechtes Gedankengut immer zwangsläufig in eine linksradikale und anarchistische Ecke gestellt wird Denn dort geht es weiter:
Bei zwei Großdemonstrationen im Oktober 2012 und 2013 herrschte in der Stadt Ausnahmezustand: 150 Neonazis, 1500 Polizisten und 2000 Linksautonome, die aus der ganzen Region angereist waren, lieferten sich Jagdszenen.
“Das Urteil fällt, und eine Stadt atmet auf” – Stuttgarter Zeitung Ausgabe Göppingen vom 12.08.2015, Seite 20
Diese Zahlen entbehren jeglicher Grundlage. Während die Anzahl der Neonazis noch weitgehend korrekt ist, waren sowohl 2012 als auch 2013 nach eigenen Angaben der Polizei jeweils mehr als 2000 Beamte im Einsatz. Die Anzahl gewaltbereiter linker Gegendemonstranten wird dahingegen von der Polizei für 2012 auf ca 500 geschätzt. Eine konkrete Zahl für 2013 findet sich nicht, der baden-württembergische Verfassungsschutzbericht 2013 gibt aber an, dass die Zahl im Vergleich zum Vorjahr rückläufig gewesen sei.
Vermutlich werden hier mit “Linksautonomen” aber einfach jeder und jede bezeichnet, der oder die Gesicht gegen Rechtsextremismus zeigt. Dann kommt die Zahl zumindest so ungefähr hin.
Eigentlich verstand sich Göppingen als multikulturell aufgestellte Stadt, in der Angehörige aus mehr als 100 Nationen wohnen, in der seit Jahrzehnten kein Rechtsextremist im Gemeinderat saß und die schon seit 2007 am Bundesprogramm gegen Rechtsextremismus mitwirkte. Doch plötzlich ging das hässliche Wort von Göppingen als ‘Wohlfühlort für Neonazis’ um.
Der Begriff, von einer örtlichen Zeitung überregional lanciert, hat getroffen. Gestimmt habe er nie, sagt Ulmer. Doch das grausame Medienecho habe zu einer Mobilisierung der Mitte der Gesellschaft beigetragen. Auch der Oberbürgermeister Guido Till (CDU), der anfangs zögerte, weil er eine Vereinnahmung der Stadt durch linksextreme Kräfte befürchtete, stellte sich nun uneingeschränkt in den Dienst der Sache. Sogar seinen Bauhof setzte er gegen rechts in Bewegung. Für den im Oktober 2014 geplanten Naziaufmarsch blockierte er mit einer Leistungsschau den Marktplatz.
“Das Urteil fällt, und eine Stadt atmet auf” – Stuttgarter Zeitung Ausgabe Göppingen vom 12.08.2015, Seite 20
So sehr es zu begrüßen ist, dass der Oberbürgermeister sich im letzten Jahr endlich klar positioniert hat, so ist es aber leider doch so, dass die NWZ diesen “Wohlfühlort für Nazis” bereits in der Ausgabe vom 3. Januar 2013 ausgerufen hat. Die Positionierung des Oberbürgermeisters erfolgte aber erst Mitte 2014, als bereits klar war, dass keine Nazi-Demo mehr stattfinden würde. Und bis zur Verhaftung der vier Rädelsführer im Februar 2014 war die Sprachregelung der Stadt Göppingen ja so, dass es nur einen einzigen Neonazi in der Stadt gebe und alle anderen ja von “Außen” kämen. Wobei “Außen” hier auch die Stadtteile der Stadt Göppingen, mit Ausnahme der Kernstadt selbst, einschloss. Das war kein uneingeschränkter Dienst in der Sache – das war bestenfalls Dienst nach Vorschrift!
Doch zu diesem Aufmarsch kam es nicht mehr. Im Februar 2014 wurden die vier Rädelsführer der kleinen Göppinger Neonazizelle wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung verhaftet. Seither gab es nur noch eine kleine Solidaritätskundgebung bayerischer Neonazis am Göppinger Bahnhof.
“Das Urteil fällt, und eine Stadt atmet auf” – Stuttgarter Zeitung Ausgabe Göppingen vom 12.08.2015, Seite 20
Das Adjektiv “klein” kann ja unterschiedlich interpretiert werden, aber wann ist eine Neonazizelle klein? Die Neonazizelle um Beate Zschäpe war – personell gesehen – kleiner als die Autonomen Nationalisten Göppingen. Welche qualitative Aussage über deren Tun lässt sich daraus schließen? Und natürlich war im Vergleich zu den Oktoberdemonstrationen 2012 und 2013 mit jeweils ca. 140 – 150 Nazis auch die besagte Solidaritätskundgebung Ende August 2014 in Göppingen mit rund 40 Neonazis (nicht nur aus Bayern) kleiner, aber wenn sich dennoch eine solche Zahl hier versammelt zeigt das doch eher, dass die Göppinger Kameraden in den Netzwerken und Strukturen der Szene nach wie vor geschätzt und beachtet werden.
Der Spuk scheint vorbei. […] Kaum einsichtig gaben sich die beiden anderen, die sich von bekannten Szeneanwälten verteidigen ließen und die immer noch in Untersuchungshaft sitzen. Hitlergruß, Hitlerbilder und Judenscherze seien nur Späße im Suff gewesen, erklärten sie vor Gericht. Für eine tiefere innere Überzeugung stünden sie nicht. Allerdings passierte dem Angeklagten Manuel G. dann doch ein kleiner Freudscher Versprecher. Er sagte ‘Volksgerichtshof’, wo er doch eigentlich Verwaltungsgerichtshof meinte.
“Das Urteil fällt, und eine Stadt atmet auf” – Stuttgarter Zeitung Ausgabe Göppingen vom 12.08.2015, Seite 20
Leider bestanden die Autonomen Nationalisten Göppingen nicht nur aus den vier hier als Rädelsführer Angeklagten. In der Stuttgarter Zeitung wurde ja selbst am 5. Mai geschrieben, dass die Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen 13 weitere mutmaßliche Mitglieder der AN Göppingen Anklage erhoben hat. Und ein jüngst von der rechtsextremen Partei “Der III. Weg” veröffentlichtes Schreiben, das einem der beiden noch in Haft befindlichen Angeklagten zugeschrieben wird formuliert es wie folgt:
Dagegen führten auch über 16 Monate in Haft bei uns nicht dazu, dass man uns brechen konnte. Kein Gefängnis schafft es, stolze Menschen zu sich duckenden Untertanen und Knechten zu machen. Ganz gleich wie lange die Haft noch andauern mag und wie lange der Prozess noch dauern wird, aufgeben werden wir nicht!
Schließlich hat uns gerade auch die Verhaftung und dieser jeder logischen Grundlage entbehrende politische Schauprozess gezeigt, wie richtig unsere Haltung und unser Bild dieses Systems ist. Ein System, das neben der Verantwortung für bspw. Überfremdung, Arbeitslosigkeit oder Kinderarmut auch für Gesinnungshaft politischer Dissidenten die Verantwortung trägt.
“Gedanken eines Angeklagten zum ‘AN-Göppingen’-Prozess am Landgericht Stuttgart” – Internetseite der Partei “Der III. Weg” vom 06.08.2015
Das klingt eindeutig nach Späßen im Suff ohne politische Agenda. Nicht.
In Zukunft dürfte es wohl ein anderes sein. Am Sonntag demonstrierten zehn Neonazis im 20 Kilometer entfernten Weilheim (Kreis Esslingen) gegen die Eröffnung eines Asylbewerberheims. Für Göppingen scheint das Kapitel hingegen ausgestanden zu sein – vorerst.
“Das Urteil fällt, und eine Stadt atmet auf” – Stuttgarter Zeitung Ausgabe Göppingen vom 12.08.2015, Seite 20
So sehr ich hier gerne zustimme, dass der Hintergrund der Nazidemonstrationen in den vergangenen Jahren die Hürde für solche Demonstrationen – sei es PEGIDA oder sogenannte “Asylgegner” – in Göppingen erhöht hat, weil sich jeder Anmelder erst mal von den Autonomen Nationalisten hätte abgrenzen müssen, so bezweifle ich, dass dies nachhaltig für die Zukunft anhält. Denn das erfordert viel Engagement aus der breiten Mitte der Gesellschaft. Und gerade dieses wird durch Artikel wie diesen leider nicht gefördert.